Wer war Max Scheler?


Zu Rudolf Großmann vgl.: Phänomen Großmann trifft auf künstlerische Fotographie, hrsg. von Lisa Bauer-Zhao und Isabel Herda, Städtische Museen Freiburg, Köln 2022, das Portrait Schelers dort auf S. 200.
Unser Abdruck erfolgt nach einer Vorlage aus Privatbesitz.
Zur Zeitgenössische Aufnahme der Künstlermappe „Zeitgenossen“ vgl. : DAS WERK. Architektur. Freie Kunst. Angewandte Kunst. Erstes Heft, Januar 1926, S. 64 ff.
Großmann hat mehrere Portraits Schelers angefertigt.
Vgl. Z. B. auch Keyserling, Hermann Alexander: Probleme des persönlichen Lebens
„Zu Hause auf meinem Kanapee erzählte mir der Professor Scheler die indische Sage von der Leidensschlange, deren tausendfältiger Umschlingung sich der Inder leise und geschmeidig entwindet. Er selbst ist so ein leiser und geschmeidiger, sich Ent- und Einwindender, eine Proteus-Natur, die meinem Zufassen immer wieder entgleiten wollte, sich bald verkrampfte, bald in Schlaffheit löste, jetzt wie ein Senkblei in die Tiefe des Moralischen und Religiösen lotend, dann wieder frivol und mondän an schillernden Oberflächen.“
Das Portrait Schelers wurde einem größeren Publikum durch eine Veröffentlichung im Berliner Tageblatt vom 1. März 1925 bekannt. Unter dem dem Titel Charakterköpfe unserer Zeit sind fünf Zeichnungen und kurze Kommentare zu sehen. Neben Scheler sind Thomas Mann, Emil Jannings, Oswald Spengler und Lovis Corinth abgebildet.
Nicht nur für seinen Porträtisten Rudolf Großmann, war Scheler eine schwierig zu fassende Figur. Er war: Ein öffentlicher Intellektueller, ein akademischer Philosoph, ein Soziologe, Philosophischer Psychologe, zwischenzeitlich eine wichtige Figur in der katholischen Reformbewegung und zeitlebens Teil verschiedenster Milieus: Scheler verkehrte mit Wiener und Berliner Literaten, der Phänomenologischen Bewegung, der Schwabinger Boheme, den Neukantianern, den Begründern der deutschen Soziologie, Vertretern der verschiedener psychologischer Strömungen, (Reform-)katholiken, der Jugendbewegung und vielen anderen. Bereits in seiner Frühphase stand er im Kontakt zu Henri Bergson, den er als einer der ersten deutschen Philosophen rezipierte und zeitlebens stand er in persönlicher Verbindung zu Frankreich. Kurz vor seinem Tod sprach er als erster Vertreter der phänomenologischen Bewegung in Pontigny vor wichtigen französischen Denker*innen. Ebenso zahlreich wie seine Verbindungen waren seine Publikationskanäle und die Bühnen auf denen er seine Ideen vortrug. Scheler war ein Systemdenker, der einzelne Teile seines Systems immer wieder neu gedacht hat. Nicht nur seine intelektuelle Biographie ist bewegt: Immer wieder zwangen ihn persönliche und professionelle Brüche dazu, sich neu zu verorten und er bewegte sich lange Zeit außerhalb der akademischen Welt. Daher ist die Quellenlage für einzelne Phasen seines Lebens lückenhaft.
Was bedeutet das für philosophiehistorische Forschung?
Schelers Vielseitigkeit war stilbildend für seine Philosophie. Viele berühmte Thesen hätte er ohne die Einbindung in einzelne Milieus nicht denken können. Die Fokussierung auf einzelne Perspektiven verstellt den Blick auf den Systemcharakter von Schelers Denken, in dem alles mit allem zusammenhängt. Kernthesen gelten in der Sprache aller Milieus. Es gilt folglich immer die Frage: Auf welchem Weg fand eine Idee Eingang in das ‚System‘ und wie ging die Integration vonstatten? Ein Beispiel: Welche Perspektive auf die Frage nach der Erfahrung des Anderen ist ursprünglicher? Die Idee der Unableitbarkeit des Lebens, die Idee der psychophysischen Indifferenz des Ausdrucks oder Schelers vielleicht wirkmächtigste Formel: Die Idee der unmittelbaren Fremdwahrnehmung?
Viele von Schelers Kerngedanken in einer Zeit (1905-1910) entwickelten sich in einer Zeit, in der er nicht publizierte. Er war im ständigen Austausch mit vielen Kreisen. Sein Denken entwickelte sich in Gesprächen, Vorträgen, Briefen und in (teilweise nicht erhaltenen) Manuskripten. Ein klassischer hermeneutischer Zugriff über Veröffentlichungen kann unsere Fragen nicht beantworten. Möglich ist ein Rückgriff auf Arbeitshefte und Notizbücher, den erhaltenen Teil seiner Privatbibliothek und die persönliche und wissenschaftliche Korrespondenz.
Für die Frage nach französischen Einflüssen und der Rezeption Schelers in Frankreich wird der Zugriff dadurch erschwert, dass es zwar belegte Kontakte zwischen Scheler und Henri Bergson gab, Schelers Auseinandersetzung mit französischen Quellen aber wohl primär lesend stattfand, während seine Rezeption in Frankreich nicht nur durch ein französisch geprägtes Denken, sondern vor allem durch persönliche Kontakte geprägt wurde. Diese spezielle Sachlage und die Lückenhaftigkeit der Quellen machen die Verbindung verschiedener methodischer Zugriffe notwendig. Grundlage ist dabei die von Dieter Henrich für die Erforschung der Frühgeschichte des Deutschen Idealismus entwickelte Idee der Konstellationsforschung.
Pluralität von Konstellationen

Grundlagen
Vorraussetzung für alle weiteren Analysen und integraler Bestandteil aller philosophiegeschichtlichen Forschung im weiten und Konstellationsforschung im engen Sinn sind die Nutzbarmachung aller verfügbaren Quellen, sowie eine genaue Kenntnis der werkimmanenten Entwicklung der zu analysierenden Denkbewegungen. Das bedeutet im Fall Schelers intensive Arbeit am Nachlass in der Bayerischen Staatsbibliothekt und, in Ermangelung einer kritischen Werkausgabe, an den veröffentlichten Drucktexten.
Pluralität von Zugriffen
Einige wesentliche Aspekte des Projekts sind nur bedingt unter dem Begriff der Konstellation zu fassen, weil die persönliche Bekanntschaft zwischen den Akteuren nicht ausgeprägt genug war oder nicht ausreichend belegt werden kann. Wir verschränken daher klassisch hermeneutische Arbeit an den veröffentlichten Texten und Nachlasstexten mit konstellatorischen Detailuntersuchungen. Auch hier muss unterschieden werden zwischen der Zeit nach 1912, aus der viele Quellen erhalten sind und den nur schlecht dokumentierten Jahren davor.
Briefe

Private und akademische Korrespondenz sind mit die wichtigsten Quellen für die Forschung zu philosophischen Konstellationen. Im Fall Schelers ist die Korrespondenz aber teilweise auch selbst als philosophischer Text zu verstehen, der gemeinsam mit den Werken gelesen werden kann. Das gilt insbesondere für die Briefwechsel mit Schelers zweiter Frau Märit Furtwängler und seiner dritten Frau Maria Scheler. Sie stellen nicht nur mit die wichtigsten Quellen über persönliche Beziehungen Schelers dar, sondern in ihnen wird beispielweise auch immer wieder Schelers Phänomenologie der Liebe auf einer lebensweltlichen Ebene verhandelt. Diese Sonderstellung der Briefe wurde im Rahmen eines Workshops an der Europa-Universität Viadrina diskutiert.
Philosophiehistorische Überlegungen
Wir teilen diese These Martin Mulsows mit der Zuspitzung, dass es für jede Konstellationen einen spezifischen Zugriff gibt. Eine breiter verstandene Konstellationsforschung, so unsere These, kann auch sehr produktiv auf Teile der Philosophiegeschichte Anwendung finden, die weniger stark räumlich zu verorten sind und weniger stark im Fokus der philosophiehistorischen Aufmerksamkeite standen und stehen als die Anfänge des Deutschen Idealismus oder die Frühromantik. Diese metaphilosophischen Überlegungen werden vor Abschluss des Projekts im Rahmen eines Workshops zu Methoden der Philosophiegeschichtsschreibung mit Expert*innen diskutiert werden.
Textarbeit
Ein Indiz für die angenommene Nähe zwischen Scheler und Frankreich sind die frühen Übersetzungen seiner Werke ins Französische. Im Rahmen größerer Fachtagungen werden wichtige ins Französische übersetzte Texte Schelers behandelt. Zu den Veranstaltungen werden Expert*innen zu wichtigen historischen Einflüssen und Gesprächspartner*innen Schelers eingeladen und es werden die Ergebnisse der textgenetischen Untersuchungen, sowie aus der Konstellationsforschung entstandene Thesen diskutiert. Die Ergebnisse der Tagungen werden in Sammelbänden publiziert.